Warum führt die fehlerhafte Anhörung des Parlaments zur Nichtigkeit der Milchabgabenregelung auf Grundlage der VO 1788/2003?

  1. Das sagt der Europäische Gerichtshof in einem Urteil vom 5.7.1995:

„Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die ordnungsgemäße Anhörung des Parlaments in den vom Vertrag vorgesehenen Fällen eine wesentliche Formvorschrift darstellt, deren Nichtbeachtung die Nichtigkeit der betreffenden Handlung zur Folge hat … Die wirksame Beteiligung des Parlaments am Gesetzgebungsverfahren der Gemeinschaft … stellt nämlich ein wesentliches Element des vom Vertrag gewollten institutionellen Gleichgewichts dar. Diese Befugnis ist Ausdruck eines grundlegenden demokratischen Prinzips, nach dem die Völker durch eine zu ihrer Vertretung berechtigte Versammlung an der Ausübung der Hoheitsgewalt beteiligt sind.“

Weiter führt der Europäische Gerichtshof aus:

„Folglich stellt der Umstand, dass das Parlament in dem […] Gesetzgebungsverfahren nicht ein zweites Mal angehört worden ist, eine Verletzung wesentlicher Formvorschriften dar, die zur Nichtigerklärung des streitigen Rechtsakts führen muss.“

  1. Dies hat das Parlament in seiner Entschließung vom 5.6.2003 gefordert:

a) „fordert den Rat auf, es zu unterrichten, falls er beabsichtigt, von dem vom Parlament

   gebilligten Text abzuweichen;

b) verlangt die Eröffnung des Konzertierungsverfahrens gemäß der Gemeinsamen Erklärung

   vom 4. März 1975, falls der Rat beabsichtigt, von dem vom Parlament gebilligten Text

   abzuweichen;

c) fordert den Rat auf, es erneut zu konsultieren, falls er beabsichtigt, den Vorschlag der

   Kommission entscheidend zu ändern;

 

  1. Das hat der Rat und die Kommission in Bezug auf die Parlamentsforderungen unternommen:

a) Verabschiedung eines nicht vom Parlament gebilligten Textes, ohne das Parlament zu unterrichten

b) Nichts

c) Entscheidende Änderungen (insbesondere: neben den Landwirten werden die einzelnen Mitgliedsstaaten selbst Schuldner der Abgabe; Erhöhung der Abgaben; Verminderung der Gegenleistungen (Aufgabe des Richtpreises) durch den Rat, ohne das Parlament erneut anzuhören

 

Welche Bedeutung hat die von Rat und Kommission ignorierte Forderung des Parlaments bei der Neuregelung der Milchabgaben durch die VO 1788/2003, ein „Konzertierungsverfahren“ durchzuführen?

  1. In Europa gibt es kein Grundgesetz, das das Gesetzgebungsverfahren umfassend regelt. Deshalb haben die in den Gründungsverträgen vorgesehenen Gesetzgebungsorgane feierlich eigenständige Detailregelungen in Form von sogenannten „interorganschaftlichen Verträgen“ geschaffen.
  2. Diese Verträge sind nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes rechtsverbindlich, so dass Verstöße gegen diese Verträge zur Nichtigkeit unter diesem Verstoß zustande gekommenen Regelung führen kann.
  3. Das Konzertierungsverfahren ist bereits in dem allerersten interorganschaftlichen Vertrag zwischen Rat, Kommission und Parlament geregelt worden. Danach ist dieses besondere „Vermittlungsverfahren“ durchzuführen, wenn das Parlament dies verlangt.
  4. Das Parlament hat die Durchführung dieses Verfahrens in seiner Entschließung vom 5.6.2003 ausdrücklich verlangt
  5. Es liegt somit ein eindeutiger Verstoß gegen einen interorganschaftlichen Vertrag vor, der nach der bisherigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshof, regelmäßig die Nichtigkeit des zugrundeliegenden Rechtsaktes -also der VO 1788/2003- zur Folge hat.

Wenn die VO 1788/2003 wegen der Übergehung des Europäischen Parlaments vom EuGH voraussichtlich für nichtig erklärt wird, kann dann nicht einfach stattdessen die Vorgängerregelung zu dieser Verordnung weiter angewendet werden?

 

Gegen diese vom Bundesfinanzhof (fachlich sehr überraschend verwendete Argumentation) spricht:

  1. Die Vorgängerverordnung sah keine feste Abgabenhöhe vor, sondern legte lediglich eine Abgabe in Höhe von „ 115% des Richtpreises“ fest. Der Richtpreis wurde selbst wurde in dieser Vorgängerverordnung aber gar nicht bestimmt, sondern in einer anderen Verordnung, die ausdrücklich aufgehoben wurde. Ab dem 1.4.2003 gab es deshalb gar keine Festsetzung des Richtpreises mehr, so dass die Abgabe allenfalls 115% von Nix betragen würde.

 

  1. Die Vorgängerverordnung hatte naturgemäß gar keine Referenzmengen für die erst 2004 erfolgten Mitgliedsstaaten vorgesehen. Es ist kaum zu fassen, dass ein deutsches Gericht überhaupt die Auffassung vertritt, es genüge doch, wenn eine europäische Regelung in Deutschland eine Abgabe vorsieht, ohne, dass dieselbe Abgabe in allen anderen Mitgliedsstaaten gleichermaßen erhoben werden müsse.

 

=> Wir meinen: hierüber kann nur der EuGH entscheiden => der BFH hat bereits die Gelegenheit erhalten, hierzu (freiwillig) noch einmal Stellung zu nehmen; anderenfalls gehen wir davon aus, dass das Bundesverfassungsgericht den Bundesfinanzhof dazu zwingen wird, seiner Verpflichtung zur Vorlage an den Europäischen Gerichtshof nachzukommen. Die Verfassungsbeschwerde läuft bereits. Es bleibt hier die Erkenntnis, dass die deutschen Gerichte wohl aus Angst vor deutlichen Worten vom Europäischen Gerichtshof die Vorlage an den EuGH scheuen wie der Teufel das Weihwasser…

Wenn die Abgabenfestsetzungen für 2004/2005 bis 2007/2008 rechtswidrig waren, welche Auswirkungen hat dies auf die bis heute unter der Geltung der Nachfolgeverordnung 1234/2008 eingezogenen Vorauseinbehalte und Abgabenfestsetzungen?

Laut einer Meldung von topagraronline vom 17.4.2014, vertritt inzwischen selbst der Bundeslandwirtschaftsminister Schmidt die Auffassung, dass für das laufende Milchwirtschaftsjahr 2014/2015 gar keine Rechtsgrundlage für eine Milchabgabenfestsetzung mehr besteht. Das Bundeslandwirtschaftsministerium muss sich dann jedoch fragen lassen, weshalb es so tut, als ob es mit der Sache gar nicht zu tun hätte, während weiterhin Milchquotenbörsen abgehalten werden und das Bundesfinanzministerium unverändert alle Hebel in Bewegung setzt, um die Milchabgaben einschließlich der Vorauseinbehalte trotzdem einzutreiben.

Dem 2004 neu gewählten Europäischen Parlament wurde die Nachfolgeverordnung 1234/2008 als bloße technische Neufassung ohne inhaltliche Änderungen „verkauft“. Die Parlamentarier wurden somit über die wahren Beweggründe getäuscht, insbesondere über den Umstand, dass das Vorgängerparlament bisher noch gar nicht rechtswirksam diesen Regelungen zugestimmt hatte. Eine derartige Täuschung ist u.E. ebenfalls ein wesentlicher Verfahrensverstoß, der eine unzureichende Parlamentsbeteiligung begründet und somit zur Nichtigkeit der Nachfolgeverordnung führt.

Letztlich ist hier auch zu berücksichtigen, dass die gesamte Milchabgabenregelung mit ihren zufallsabhängigen bis zur Existenzvernichtung gehenden Strafandrohungen zu diesem Zeitpunkt gar keine innere Rechtfertigung mehr hatte. Wenn bereits in 2003 die Milchmarktsituation von den Verantwortlichen so eingeschätzt wurde, dass gar keine demokratisch rechtmäßig zustande gekommene Regelung mehr durchsetzbar war, so spricht alles dafür, dass sich hieran drei Jahre später nichts geändert hat. Jedenfalls haben sich am Milchmarkt -außer der stetig ansteigenden Weltmarktnachfrage- keine wesentlichen Änderungen ergeben. Milchseen und Butterberge aufgrund von leichtfertigen Garantiepreisversprechen aus den Jahren vor 1984 waren jedenfalls seit langem vergessen.